Der Flüchtlingsdienst der Diakonie St. Pölten organisierte am Samstag, dem 4. Juni 2016, eine Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Wie kann man Flüchtlinge sinnvoll beim Spracherwerb begleiten – Orientierungshilfen und Tipps für die Freiwilligenarbeit“. Der Kurs unter der Leitung von Andrea Schütte-Vojacek, DAF Trainerin im IBZ St. Pölten, war für mich so aufschlussreich, dass ich hier gerne die für mich wichtigsten Erkenntnisse mitteilen möchte. Vielleicht sind sie ja auch für andere ehrenamtliche DeutschkursleiterInnen und BesucherInnen unserer Website interessant:
- Langsam und schrittweise vorgehen, max. 10 Vokabel auf einmal erklären. (Ein Wort muss 100x wiederholt werden, bis es im aktiven Wortschatz gut gefestigt ist!) Zur Verdeutlichung legte unsere Trainerin Bilder mit Lebensmitteln auf und ließ uns dazu die entsprechenden ungarischen Wörter üben. Zuerst die ersten fünf, dann die nächsten fünf Wörter wurden von uns sieben Teilnehmerinnen nacheinander laut nachgesprochen. Etwas später wurden Kärtchen verteilt mit den entsprechenden geschriebenen Wörtern und wir hatten die Aufgabe, an der Tafel diese Kärtchen den richtigen Bildern zuzuordnen. In der Gruppe war diese Aufgabe lösbar.
- Daraus folgt auch: mündlich ist wichtiger als schriftlich. Es nützt wenig, Hefte mit Vokabel vollzukritzeln, wenn man sich nicht getraut zu sprechen. (Primäre Analphabeten werden in den Kursen Alpha 1 und Alpha 2, die das IBZ St. Pölten anbietet, vor allem auf das Hören und Sprechen trainiert; Bücher kommen erst im Kurs A0.)
- Daraus folgt auch: wiederholen, wiederholen, wiederholen!
- Ansprüche zurückschrauben: Andrea Schütte-Vojacek empfahl uns, keine Grammatik zu unterrichten. Ich habe es für mich persönlich so umformuliert: so wenig Grammatik wie möglich. Auch die Benennung so einfach wie möglich machen: z. B. statt Singular und Plural eins und viele sagen)
- Artikel nicht überbewerten!
- Das Sprechen in ganzen Sätzen ist einzufordern: Das ist ein Tisch. Das ist ein Apfel. Diese ganzen Sätze können durchaus formelhaften Charakter haben: Ich möchte bitte einen Apfel. Ich möchte bitte eine Fahrkarte.
- Genauso wie beim Sprechen nicht zuviel korrigiert werden sollte, um die Lernenden nicht zu entmutigen, so ist es auch nicht wichtig, jedes einzelne Wort zu erklären. Besser ist es, globales Verständnis zu trainieren, und z. B. bekannte Wörter unterstreichen zu lassen.
- Das Wissen sollte möglichst abwechslungsreich vermittelt werden, z. B. auch in Kombination mit Bewegung, Singen oder Spielen. Stichwort: Lernen mit allen Sinnen. Geeignete Spiele sind Memory, Bingo, Quartett, Würfelspiele (z. B. zum Thema Konjugieren 1:ich – 6:sie), Rollenspiele
- Die Materialien sollten authentisch und aus dem Leben gegriffen sein (z. B. Werbeprospekte, Kalender).
- Nützlich: Karteikarten anlegen. Ich habe das gestern gleich ausprobiert, wir übten verschiedene Wörter erst in einem Spiel, dann schrieben die drei anwesenden SchülerInnen die 15 neuen Wörter (jede/r fünf) auf Karteikarten im A6-Format. Das nächste Mal werde ich diese Karten nehmen und sie bitten, das richtige Bild zu finden.
- Nicht Du und Sie gleich mischen; leichter ist es, erstmal mit Sie zu beginnen.
Noch ein AHA-Erlebnis: Im Arabischen werden die Selbstlaute nicht zu Papier gebracht. So würde man nach dieser Regel das Wort Name nur mit Nm niederschreiben. Dieser Hinweis ist eine mögliche Erklärung dafür, warum die Aussprache und Unterscheidung der einzelnen Vokale für unsere SchülerInnen nicht so einfach ist.
Zusatzinfo: Was ist Elongo?
Der Kurs war eigentlich für Elongó-Buddies ausgeschrieben. Ich konnte aber einen der frei gebliebene Plätze ergattern und freundlicherweise auch teilnehmen.
Was ist Elongo? Elongó ist ein Ehrenamtlichenprojekt des Integrations-und Bildungszentrums (IBZ) St. Pölten, Maximilianstraße. Sogenannte „Buddies“ treffen – sozialarbeiterisch begleitet und unterstützt – über einen vereinbarten Zeitraum regelmäßig Flüchtlinge und helfen diesen, sich in Österreich zu orientieren und ein neues Leben aufzubauen, die neue Sprache zu üben, Kontakte zu knüpfen und sich „zuhause“ zu fühlen.
Herzliche Grüße, Alexandra Eichenauer-Knoll
PS, noch etwas Persönliches: Für mich war das Spiel mit den ungarische Vokabeln nicht nur aus pädagogischer Sicht interessant. Ich hatte als Studentin ein Jahr lang am finnisch-ugrischen Institut Ungarisch inskribiert und lernte die Sprache damals mit Feuereifer. Ich wollte nachholen, was mir meine Mutter, eine gebürtige Ungarin, nicht gelehrt hatte – ihre Muttersprache zu sprechen. Nach einem Jahr gab ich dieses Unterfangen auf und wechselte zu Spanisch, weil diese Sprache international und gut kompatibel mit meinem Wirtschaftsstudium war.
Das war aber nicht der tiefere Grund, warum ich das Erlernen des Ungarischen bleiben ließ. Es war wohl eher das Unverständnis meiner Mutter, das mich entmutigte. Für sie war die alte Heimat längst und unwiederbringlich verloren, ihr schienen meine Versuche, auch wenn sie es freundlich zu verbergen suchte, sinnlos. Als wir im Seminar die Wörter mit Andrea übten – natürlich um selbst zu spüren, wie schwierig es ist, sich zehn Vokabel in einer Stunde zu merken – da wurde sie wieder wach, diese alte Sehnsucht nach der Sprache meiner Mutter. Und die bittere Frage, warum sie mir ihre Muttersprache nicht hatte beibringen wollen, stellte sich mir erneut.