Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie, hat 2024 ein schmales Büchlein von 70 Seiten im Taschenbuchformat veröffentlicht. Es ist ein Essay, den jede/r lesen sollte, der oder die beim Thema Armut mitreden möchte. Der Titel „Brot und Rosen“ bezieht sich auf eine Forderung von Textilarbeiterinnen in Massachusetts vor etwas 100 Jahren, die sich nicht nur für ein besseres Einkommen, sondern auch für Anerkennung und Vertrauen einsetzten.
Der Autor verweist auf zahlreiche Studien, die alle bestätigen: Wer arm ist, wird in mehrfacher Hinsicht zusätzlich bestraft.
Armut ist einer der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust, so Schenk, denn durch sie wird auch der Möglichkeitsraum geraubt, zB auf freie Entscheidungen oder Erholungsphasen. Dauerstress, Diskriminierung und spürbare Vorurteile wirken sich auf die Aufmerksamkeitsspanne aus und schwächen so indirekt die Leistungsfähigkeit.
Die langläufige Meinung fordert aber genau das Gegenteil: Strengt euch doch einfach mehr an! Denn die säkulare, meritokratische Ordnung von heute, das weltliche „Wohlstandsevangelium“, so Schenk, macht uns glauben: „Jeder schafft es, wenn er nur will“. Noch fragwürdiger wird es, wenn dieses Dogma noch moralisch aufgeladenen wird im Sinne von: „Die Erfolgreichen schaffen es aus eigener Kraft, doch ihr Erfolg bescheinigt ihre Tugend.“ An diesem Punkt kann es sich der Sozialexperte nicht verkneifen, auf das lutherische Verständnis von Gnade als unverdientes Geschenk hinzuweisen.
Vorurteile wie diese erzeugen bei den Betroffenen Beschämung, Ohnmacht und Einsamkeit. Was gerade einkommensschwache Menschen aber bräuchten, wären Freunde, Respekt und Wertschätzung und durchaus auch Erholung und Kulturerlebnisse. Sonst verlieren sie die Möglichkeit auf sinnstiftende Beziehung.
Es führt zu weit, alles genau zu beschreiben, spannend fand ich auch den Hinweis, zwischen Sach- und Dienstleistungen zu differenzieren. Während Dienstleistungen wie zB Pflegehilfe oder Kinderbetreuung die Handlungsspielräume der Betroffene erweitern, wird mit Sachleistungen der gegenteilige Effekt erzielt. Diese reduzieren die Selbstständigkeit, erzeugen ein Gefühl von Entmündigung. Hiervon könnten Entscheidungsträger in diesem Land lernen. Von der aktuell diskutierten Bezahlkarte für Grundversorgungsempfänger schreibt der Autor nichts, diese Idee ist wohl noch zu frisch. Die ersten Berichte deuten aber darauf hin, dass sie den Freiheitsspielraum noch mehr einengt und die Verzweiflung erhöht.
Wer glaubt, Armut beträfe ihn oder sie nicht und kenne auch keine Betroffenen, dem sollte dieser Hinweis von Martin Schenk zu denken geben: „Sie (Anm.: die Armutsbetroffenen) sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen.“
Herzlichst, Alexandra Eichenauer-Knoll